xplore04-Xtreme Sinnlichkeit von Christine Janson (CONNECTION SPEZIAL VI/04)

Rituelle Fußwaschungen und japanische Hängebondage auf der xplore04 in Berlin

Je intensiver die bewusst erfahrene Emotion, desto höher die Sphäre der Wahrheit, die in der Transzendenz liegt? In den Tanzräumen des alternativen Kulturzentrums Dock11 gaben der Berliner Choreograph Felix Ruckert und Caprice Dilba als Veranstalter der "xplore04" ihre eigenwillige Antwort auf diese Frage. Im Rahmen von 45 Workshops sollten sich hier drei Tage lang Tantra und BDSM begegnen. Erleuchtung durch Bondage & Discipline, Dominance & Submission bzw. Sadomasochismus, kann denn das funktionieren? Ja, darf man es überhaupt versuchen?

Durch Hingabe und Unterwerfung lernen

Ehe wir dem hässlichen Signalwort "Perversion" in diesem Zusammenhang Raum geben: BDSM ist ein Sammelbegriff für sexuelle Aktivitäten zwischen Erwachsenen, die sich im gegenseitigen Einverständnis mit dominant-submissiven Rollenspielen, physischer Beschränkung und der Lust am Schmerz auseinandersetzen. Na gut, aber was hat das mit Tantra, was mit Liebe zu tun? Wie kann man einem Menschen, den man liebt, Schmerzen zufügen oder ihn beherrschen wollen? Im Versuch, das Paradox zu erklären, verweist Felix Ruckert auf die Bedeutung der Polarität. "Sex ist nicht demokratisch", meint der Choreograph ungewöhnlicher Tanz- Performances. "Es geht dabei immer um verschiedene Rollen, die wir miteinander ausprobieren. Zum Lernen gehören Hingabe und Unterwerfung; das führt zur spirituellen Weiterentwicklung". Er wünscht sich einen kreativeren Umgag mit Sexualität, ohne falsche Scham und moralische Bewertungen. So könnten Liebende in tiefe Kommunikation miteinander treten und isch gemeinsam weiterentwickeln.
Wie Felix Ruckert in seinen Tanz-Performances die Grenzen zwischen Aktuer und Zuschauer verwischt, so verschwammen beim Betrachten der Besucher auf der Xplore auch meine mitgebrachten Vorstellungen mit der vorgefundenen Realität. Wer hierher gekommen war, um in sinnlichen Begegnungen die Trennung zwischen Kunst, Erotik und spiritueller Erfahrung aufzugeben, war zum Beispiel überraschend unspektakulär gekleidet: Statt Lack, Leder oder indischer Saris beherrschten bequeme Jogging-Anzüge das Bild. Fast schon beruhigend, dass in den Workshops doch noch einige Spitzentangas zum Vorschein kamen, sobald die biedere Legging-Hülle gefallen war...

Rituelle Fußwaschung

Was meine Hüllen angeht, so habe ich ganz unten damit angefangen, sie fallen zu lassen: delta RA´i wollte eine rituelle Fußwaschung an mir demonstrieren.
Als bekennender Sadist lebt er mit seiner Partnerin Caprice eine liebevolle SM-Beziehung, getragen von Respekt und Achtung. Delta RA´i ist als Manager und Artist in verschiedenen freien Theatergruppen in Berlin tätig - 1987 war er Mitbegründer der ersten gemeinsamen deutsch-japansichen Butoh-Tanzgruppe, seit 1995 leitet er gemeinsam mit Yumiko Yoshioka das Tanzprojekt "eX...it!" auf Schloss Bröllin.
Seine 1998 entwickelten Fußwaschungen gehen auf ein Ritual zurück, mit dem Menschen bereits zur Zeit Christi ihre gegenseitige Wertschätzung zum Ausdruck brachten. Heute noch wäscht der Papst ja seinen Kardinälen am Gründonnerstag die Füße als Zeichen von Demut und Hingabe.
Mit geschlossenen Augen wartete ich gespannt auf die erste Berührung, als meine Füße mit sanftem aber bestimmten Griff in die Wanne gehoben wurden. Einfühlsame Hände massierten Ferse, Sohle und Zehen unter Wasser ich fühlte mich gehalten und getragen. Schwerelosigkeit bereitete sich im ganzen Körper aus, und ich fühlte mich in meinem gesamten Sein berührt. Tränen kullerten mir über die Wange; es war so schön, sich hinzugeben und geschehen zu lassen. Auch die Zuschauer fühlten sich alsbald in einen meditativen Zustand versetzt und wurden Teil dieser liebevollen Kommunikation.


delta RA´is Workshop über Flagellationsrituale empfand ich dann als krasses Kontrastprogramm, orthodox-katholische Geißelungen wollten mir dabei nicht aus dem Sinn gehen. Ehrlich gesagt: Wenn man hört, dass beim Peitschen die Hals- und Nierengegend ausgespart werden müssen, kommen schon gemischte Gefühle auf. Dennoch geht es für Delta RA´i im Sadismus eben gerade nciht darum, seine Aggressionen am Partner auszulassen. Im Gegenteil soll stets in einem detaillierten Vorgespräch abgeklärt werden, wie weit der Schmerz gehen darf. Mir wurde erklärt, dass im SM der dominante Part die dienende Rolle inne hat, er soll dem anderen Lust bereiten. Es obliegt dem passiven Part, die Sache jederzeit mit einem zuvor vereinbarten codewort zu beenden.
Viel Einfühlungsvermögen ist erforderlich, um seinen Partner liebevoll an die eigene Schmerzgrenze heranzuführen und schließlich in der Verschmelzung gemeinsam eine Erweiterung des Bewusstseins zu erfahren. Auf diese Verbindung zwischen Tantra und BDSM habe ich bereits in meinem Buch "Lust auf Liebe - Erotische Phantasien und tantrische Spiele" hingewiesen. Wo tantrische Übungen dazu dienen, die sinnliche Wahrnehmung zu verfeinern, da setzt BDSM oftmals auf Sinnesentzug und Schmerz als gegenpoligen Weg zur Ekstase. Dabei wird ddie innere Wahrnehmung verstärkt und auf das Wesentliche reduziert; der devote Partner kann mit Hilfe seines "Doms" in eine Wirklichkeit vordringen, die hinter dem physischen Schmerz verborgen liegt.
Ob Tantra oder BDSM, hier wie dort ist eine Verschmelzung von körperlicher und energetischer Realität jenseits unseres verstandesmäßigen Begreifens angestrebt.
Was im Tantra der Zustand der Ekstase genannt wird, das bezeichnen SM-Fans als "Fliegen". Davon war ich beim Ausprobieren der verschiedenen Folterinstrumente allerdings meilenweit entfernt. Eher harmlos aussehende Peitschen erzeugen den gemeinsten Schmerz - man ist gut beraten, das Instrument seiner Wahl erst am eigenen Oberschenkel auszuprobieren, ehe man seinen Partner damit kontrontiert. Auch fand ich es zunächst gar nicht einfach, die Peitsche locker aus dem Handgelenk zu schwingen. Das sollte sich wortwörtlich schlagartig ändern, als ich meinen Lustgewinn und die Erregung meines devoten Partners entdeckte....

Menschliche Mobiles

Auch beim Bondage durfte ich schließlich einen Hang zur Dominanz an mir feststellen. Es bereitete mir fast kindliche Freude, die Bewegungsfreiheit meines Partners einzuschränken, und ich konnte es kaum erwarten, ihn an einem großen Haken aufzuhängen. Beim Üben wurde viel gekichert und gelacht, etwas, wenn der Knoten zu fest saß oder sich die Hanfseile von alleine wieder lösten. Ganz anders dann die profesionelle Bondage-Performance in der großen Halle. Mit spürbarer Konzentration, Achtsamkeit und in der harmonischen Stille einer japansichen Teezeremonie fertigte Matthias Grimme wahre Kunstwerke. Ein Augenschmaus aus erotischen Verschnürungen - mit großer Präsizion verknüpfte Menschen, die sich wie bizarre Mobiles langsam im Raum drehten.
Bei einem anschließenden Gespräch mit begeisterten Bondage-Fans versuchte ich, dieser Faszination auf den Grund zu kommen. "Das ist Hingabe total", beschrieb Anna* ihre eigenen Erfahrungen. "Du kannst nichts mehr tun und musst einfach geschehen lassen. vor allem die Schwerelosigkeit beim Hängebondage ist einfach klasse, aber das musst du schon selbst ausprobiert haben". Gesagt, getan. Doch mein Körper reagierte eher unwillig auf die engen Verschnürungen, es verschlug mir fast den Atem Ich ließ mir daher lieber nur die Handgelenke fesseln, was freilich bereits genügte, um starke Emotionen in mir wach zu rufen.

Wachs in geschulten Händen

Eher nüchtern dann der Einstieg in den Sado-Workshop mit Kerzenwachs. Gruppenleiter Hagen klärte uns über unterschiedliche Brenntemperaturen auf: Paraffinkerzen etwa haben eine niedere Schmelztemperatur, ebenso wie Grablichter brennen sie deshalb nicht ganz so heiß auf der Haut. Der Schmerz des flüssigen Kerzenwachses fühlte sich sogar recht angenehm an - im Gegensatz zu den Nadelstichen, in die uns Paula L. Rosengarthen im nächsten Kurs einwies. Auf den erstenn Blick wirkte die junge Frau mit den kurzen blonden haaren wie eine adrette krankenschwester, doch bald schon entpuppte sie sich als Sadistin mit rabenschwarzem Humor. Angesichts der kunstvollen Strickmuster, die Paula mit ihren Nadeln in die Haut eines freiwilligen Opfers wob, verzichtete ich vorsichtshalber auf die Teilnahme an den praktischen Übungen.
Nach all den harten SM-Techniken verlangten Seele und Körper nun nach Streicheleinheiten. Die bekam ich bei der Demonstration einer tantrischen Massage durch Sabine Hofmann, die auch den Erotikladen "La Luna" in Berlin betreibt. Sabine eröffnete die Massage mit einem erotischen Gedicht und ieß ihre Hände langsam über Füße und Arme ihrer Partnerin Carpice gleiten. Diese war zuvor rituell entkleidet, mit einem nassen Lappen gewaschen, mit Federn gestreichelt und dann mit duftendem Öl gesalbt worden. Andershalb Stunden später fühlte ich mich alleine vom Zusehen fast so entspannt wie Caprice. Da fiel es mir leicht, auf die Orgasmusschule des Diamond Lotus Instituts zu verzichten. Zumal mir bereits am Mittagstisch wenig begeistert darüber berichtet worden war.
Je 6 Teilnehmer hätten sich im Kreis gruppiert, um in einer Vertrauensübung die Person in der Mitte aufzufangen. Anschließend sollte sich einer in den Kreis setzen und seinen letzten Orgasmus nachspielen. Zum krönenden Abschluss durften sich dann alle gegenseitig an die Genitalien fassen. Weder meiner Tischnachbarin noch mir wollte es so recht gelingen, in diesen Übungen eine tiefe tantrische Bedeutung zu entdecken.
Sinnlicher wurde es bei tantrischen Beckenübungen uund rituellen Begegnungen zwischen Shiva und Shakti, die Ilka Stödtner anleitete. Ausserdem warteten in Berlin noch drei Workshops der Tantra-Lehrerin Maggie Tapert, die als "heilige Hure" Energiearbeit und Seuxalität miteinander verbindet. Einer ihrer Kurse wrude als "Orgasmatron" beschrieben - das wollte ich um keinen Preis verpassen und verzichtete schweren Herzens auf den Vortrag "Kommunikation der Subkulturen". Stattdessen wurde ich also aufgefordert mir die Augen zu verbinden und mich im Kreis der Gruppe selbst zu befriedigen. Schon bald füllte sich der Raum mit lustvollem Stöhnen und ich war mehr als einmal versucht, die Augenbinde zu verschieben...

Verständnis, Toleranz & Inspiration

Unter dem Strich bot die Xplore04 wunderbare Gelegenheiten, sich mit bisher vielleicht ungelebten Ausdrucksformen von Liebe und Sexualität vertraut zu machen und Hemmschwellen zwischen den verschiedenen Subkulturen zu überwinden. Es machte einfach riesigen Spaß, in den Workshops ungezwungen miteinander zu improvisieren. Mit Freude denke ich an die vielen erotischen Momente zurück, etwas, als Frank von der kalifornischen Sex-Beraterin Janet Hardy als williger Sklave versteigert wurde und seinen prachtvollen Körper zur Schau stellen musste.
Bei alledem wurde mir klar, dass wir gemeinsam daran arbeiten, eine neue Form der kreativen Sinnlichkeit zu schaffen: Die Zukunft gehört dem gegenseitigen Verständnis, der Toleranz und er Inspiration. Manch Tantriker mit Eso-Brett vor dem Kopf könnte durchaus ein wenig mehr spielerische Leichtigkeit vertragen, und es schadet keinem von uns, sich mit der Dunkelheit des eigenen Schattens noch int4ensiver auseinander zu setzen. mag es den BDSM-Anhängern auch ein bisschen an Bewusstsein fehlen, die Wahrheit liegt wohl wieder einmal in der Mitte. Nicht umsonst ist Tantra ein integrativer Erleuchtungsweg - der kann uns an vielerlei Orte führen, aber kaum je in die Einöde eines unerfüllten Liebeslebens nach langen (Ehe-)Jahren. C. Janson