xplore06-Über die xplore 2006 von A. M.

Der Eintritt in die Parallelwelt vollzieht sich leichter als gedacht. Wo anfangs Angst und Aufgeregtheit über das Unbekannte und Verbotene vorherrschen mag, verbreitet sich schnell eine vertrauensvolle Atmosphäre mit netten und unaufgeregt normalen Menschen. Fast könnte man es für einen Kaffeeklatsch mit den lieben Nachbarn im gemeinsamen Hof halten, würde man den Kontext ihres Zusammentreffens nicht kennen. Doch geht es um weit mehr als den netten unverfänglichen Plausch. Hier geht es um handfeste Körperlichkeiten, solcherart dass es einem Marquis de Sade helle Freude bereitet hätte.

Wir befinden uns mitten im xplore06 Workshopfestival und die Auswahl der informativen Mitmachveranstaltung lässt keinen noch so bizarren Geschmack enttäuscht. Von „Sinnlicher Massage für Frauen und Männer“, über Vorträge zu den Themen „Sexualität und Heilung“ oder „SM und Politik“ bis hin zu Workshops zu „Dominanz und Submission“, „Flagellation“, „Bonding“ und „Vaginal Fisting“ werden so ziemlich alle Themen einer lustorientierten Sexualität abgedeckt. Die Workshops sind in vier thematische Bereiche untergliedert: Berührung und Sinnlichkeit, Techniken und Werkzeuge, Szenarien und Spiele sowie Wort und Wissen. Es bleibt dabei jedem selbst überlassen bis zu welchem Grad man an den Workshops, sei es als Zuschauer oder als Ausprobierender, teilnehmen möchte. Eine Feststellung lässt sich jedoch über die meisten Veranstaltungen machen: Die anfängliche Angst im Umgang mit den unterschiedlichsten prekären Themen wurde immer durch einen sehr gelösten und lustigen Umgang unterminiert und machte einer neugierigen Forscherhaltung Platz, in dem jede(r) durch locker angeleitete Übungssituationen die einzelnen Praktiken spielerisch ausprobieren oder in einer Vorführsituation beobachten konnte.

Man will hier nicht in anzüglicher Lüsternheit seinen geheimen Phantasien frönen, sondern sich in einer zugleich pragmatischen und spielerischen Umgebung mit dem richtigen Umgang in sexuellen Praktiken vertraut machen. Bedenkt man, dass unsere westliche Gesellschaft eine durchweg sexualisierte Öffentlichkeit hat, erscheint der Wunsch nach Praxis nahe liegend zu sein. Doch immer noch haftet dem Thema Sex ein Stigmata des Verbotenen und Schmutzigen an. Kaum wird darüber in einer offenen und unverkrampften Art kommuniziert, geschweige denn zugegeben, den Wunsch zu hegen, mehr im Bett erleben zu wollen, als es die Missionarsstellung oder, die fortschrittlichere Version, das Kamasutra, zuließen. Dass ein Bedürfnis nach einer freien und vielfältigen Sexualität existiert, kann jedoch nicht verleugnet werden, wenn man die Verkaufserfolge im Sexbusiness betrachtet. Es ist genau diese Diskrepanz einer freizügigen medialen Öffentlichkeit und dem heimlich verschämten Verschweigen der privaten Intimität, welche im Kontext des xplore Festivals spielerisch aufgebrochen wird. Hier wird ein Zugang zu einer geheimen Welt gewährt, welche sich doch eigentlich nur in dunklen Hinterzimmern und fragwürdigen Etablissements abspielen sollte. Eine andere Welt wird stattdessen sichtbar. Es finden sich hier normale, gebildete und freundliche Menschen, die im Reinen mit sich und ihrer Sexualität sind. Und überdies eine kleine Sache miteinander teilen: das Wissen um die unendliche Genussfähigkeit ihres Körpers und Geistes.


Xplore lädt dazu ein, auf eine Forschungsreise zu gehen, Ideen und Anregungen zu bieten und, vor allem, einen gesunden und vernünftigen Umgang mit den unterschiedlichsten Praktiken zu vermitteln. Es ist erstaunlich wie reich unsere Empfindungen sind und wie wenig Stimulanz wir ihnen im Leben bieten. Eingezwängt in ein Korsett aus kulturell und gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensweisen, übertreten wir selten die vermeintlichen Grenzen unserer Körperlichkeit. Es gibt einen festgelegten Kanon aus Bewegungen und Haltungen deren wir uns im Alltag bedienen. Nur im Sport oder, mehr noch, im Tanz lässt sich eine andere Körperlichkeit erfahren. Doch ist es immer vom jeweiligen Raum abhängig, in dem man spezifische Bewegungen vollziehen kann oder eben nicht. Selten wird dieser unausgesprochene Verhaltenskodex aufgebrochen und die Kinesphäre in ihrer vollen Vielfalt erlebt. Noch mehr verhält es sich so bei dem delikaten Thema der Sexualität. Hier werden manche Räume gar nicht erst betreten, durch eine, aus moralischen Vorbehalten gewachsene, Ablehnung allem gegenüber was nicht der Norm entspricht. Heute bietet das Internet virtuelle Räume, in denen sich nun viele neugierig Verschämte tummeln, um ihren Bedürfnissen Befriedigung zu verschaffen. Doch wie kärglich und einsam ist diese Abhilfe im Vergleich zum realen körperlichen Erleben.

Im Grundgedanken von xplore finden sich noch weitere wichtige, soziale Komponenten. Denn die eigene körperliche Erfahrungsfähigkeit wird nicht nur durch moralische Abwägungen behindert, sondern auch durch eine von den Medien diktierte Apperzeption von Attraktivität und Jugendlichkeit. Dies verhindert oftmals die Erkenntnis, dass das Äußerliche nichts mit dem Inneren zu tun hat und ein weniger ansprechendes Aussehen eine große Vielseitigkeit und Befähigung verbergen kann. Gerade wenn es darum geht in körperlichen Kontakt miteinander zu treten, fällt es schwer diese illusionären Wunschvorstellungen von Schönheit und Ästhetik abzulegen. Man muss erst eigene Grenzen überwinden, um über den manipulativen Tellerrand einer Gesellschaft im Schönheitswahn hinauszuschauen und die Schönheit im Gegenüber in anderen Details entdecken zu wollen. Und auch um über die eigenen Gefühle der möglichen äußerlichen Unzulänglichkeiten hinweggehen zu lernen. Im Rahmen dieses Festivals fällt deutlich auf, wie wenig zu klein, zu groß, zu dick und zu dünn hier zu sagen haben. Es geht um ein Fühlen, hier werden alle Sinne gereizt und dem zumeist beanspruchten Visuellen einmal Pause gewährt. So begegnen sich hier Menschen aller Couleur und Herkunft auf einem neutralen Boden und beginnen sich zu berühren – haptisch wie seelisch.


Das auch „Abstoßendes“ schön sein kann, wird in der Abendperformance deutlich. Hier werden auf hohem Niveau zunächst eine Flagellation-Show von Caprice Dilba und delta RA´i, sowie Felix Ruckert, Dasniya Sommer, Laura Martelli und Mo Herzinger geboten, in der verschiedene Spielarten im Umgang mit der Peitsche gezeigt werden. Man sieht die Frau als nacktes Tier, welches gezähmt werden will und sich lustvoll unter den sanften Hieben des Meisters räkelt, ihn aber gleichzeitig lenkt und herausfordert. Demgegenüber ein noch animalischeres Duo, wo Mann und Frau sich auf eine archaische Weise gegenseitig dominieren und unterwerfen; es entwickelt sich ein energiegeladener, tänzerischer Kampf, ein Ausprobieren der Kräfte, ein Raufen und Ringen, welches gleichzeitig großen Spaß und Schmerz bereitet. Eine weitere Spielart wird in einer Frau-Frau-Dominanz-Unterwerfung gezeigt. Die sanfte Härte der im Anzug gekleideten Frau führt die sich Unterwerfende in ruhiger und bestimmender Art, wodurch ein Flair von prickelnder Ungewissheit entsteht, und das Spiel mit der Abhängigkeit eine höchst lustvolle Konnotation erhält. Im Gegensatz zu dieser bewegenden und schlagkräftigen Argumentation für ein aufregenderes Liebesspiel, wird der zweite Teil der Abendunterhaltung von den Meistern der Fesselung bestritten. Hier wird japanische Bondagekunst mit großem ästhetischem Anspruch gezeigt. Matthias T.J. Grimme fesselt seine Models Anna und Nicole mit liebevoll-peinigender Zärtlichkeit und verdreht ihnen mit heißem Kerzenwachs den hängenden Kopf. Zamil und maliZ beeindrucken durch eine sehr einfühlsame und offene Art, mit der sie neugierige Probanden zu einer Bondage-Session einladen. Der seit über zwei Jahrzehnten in Japan lebende Deutsche Osada Steve hat seine asiatische Muse mitgebracht. Eine Kindfrau, deren Schönheit im Licht der Scheinwerfer in einer Melange aus Manga und Zen ihre ganz eigene Strahlkraft entwickelt. Japanisches Bondage ist eine seltsame Kunst, denn einerseits zeigt sich ein sehr konzentriertes und handwerklich geschicktes Vorgehen, fast so als ob der Körper der Frau nicht lebendig existiere und zum bloßen Objekt der Einschnürung degradiert würde. Gleichzeitig offenbart sich in dieser Konzentriertheit jedoch auch eine tiefere meditative Beziehung zwischen Meister und Model. Es entsteht eine eigenartige Verbundenheit in dieser Gebundenheit und eine große erotische Spannung. Jede noch so kleine Änderung, jede weitere winzige Bindung der Seile vollzieht ein umso größeres Erleben; eine extreme Vergrößerung des Gefühls in der minimalistischen Reduktion der Handlung.


Gefühle spielen bei xplore stets eine übergeordnete Rolle, denn es geht um das sinnliche Wahrnehmen, das Spüren des eigenen Seins und das Zulassen der damit verbundenen Emotionen. Hier wird ein praktisches Handeln nahe gelegt, fern von theoretischen Diskursen und blutleerer Lektüre über Sexualität. Nach diesem Wochenende stellt sich die Frage, weshalb soviel über Liebe und Sex kommuniziert und dennoch so wenig davon erfahren wird. Es ist durchaus ein gesellschafts-politisches Moment, welches sich dahinter verbirgt. Der französische Philosoph Michel Foucault stellte sich einmal ganz ähnliche Fragen und hat über die Sexualität und Wahrheit ein sehr lesenswertes Buch geschrieben. In diesem Sinne sollen folgende Zeilen als eine Anregung zum Nachdenken und als Nachdruck für den förderungswürdigen Charakter von xplore stehen:
„Zielt denn nicht die Diskursivierung des Sexes darauf, jene Formen der Sexualität, die sich der strengen Ökonomie der Reproduktion nicht unterwerfen, aus der Wirklichkeit zu vertreiben? Sucht sie nicht alle unfruchtbaren Aktivitäten zu negieren, die Seiten-Lüste zu verbannen und die Praktiken, deren Ziel nicht die Fortpflanzung ist, zu verringern oder auszuschließen? Durch eine Unzahl von Diskursen hat man die juristischen Verurteilungen der kleinen Perversionen vermehrt, hat man die sexuelle Abweichung mit der Geisteskrankheit verkettet, hat man eine Norm der sexuellen Entwicklung von der Kindheit bis ins Alter aufgestellt und sorgfältig alle möglichen Abweichungen charakterisiert, hat man pädagogische Kontrollen und medizinische Heilverfahren organisiert, und um der geringsten Phantasien willen haben die Moralisten, aber auch und vor allem die Mediziner ein emphatisches Greuelvokabular aufgewärmt: sind das etwa nicht alles Mittel, um alle unfruchtbaren Lüste zugunsten einer genital zentrierten Sexualität aufzusaugen? Steht nicht die geschwätzige Aufmerksamkeit, die seit zwei oder drei Jahrhunderten ihren Lärm um den Sex macht, im Dienste eines elementaren Bemühens, nämlich dem, das Bevölkerungswachstum zu sichern, Arbeitskraft zu produzieren, die Form der gesellschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten, kurz: im Dienste der Absicht, eine ökonomisch nützliche und politisch konservative Sexualität zu bilden?“ (Michel Foucault, „Der Wille zum Wissen – Sexualität und Wahrheit 1“, Frankfurt a.M. 1983, S. 41)
Dies ist eine sehr negative Auffassung eines gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität und doch steckt darin viel Wahrheit. Denn immer noch handelt es sich um eine tabuisierte Zone; was natürlich auch den Reiz des Verbotenen in sich trägt. Doch die multiplen Erfahrungen von menschlicher Berührung fallen in diesen weiten Bereich der „Seiten-Lüste“ hinein, womit es vielen Menschen weiterhin verwehrt bleibt einen vorbehaltlosen und lockeren Zugang zu ihrer eigenen Körperlichkeit zu erlangen. Auch bedarf es kaum mehr einer Steuerung der Fruchtbarkeit zum produktiven Erhalt der Gesellschaft. Spätestens seit der Entwicklung der Antibaby-Pille und des öffentlich subventionierten Gebrauchs von Kondomen sollte dem Genuss einer frei gelebten Sexualität nichts mehr im Wege stehen. Doch nur wenige trauen sich über die Grenze der Worte hinaus und beginnen die Landkarte ihrer Körper erneut für sich zu erobern. xplore ist ein solches Projekt, im Sinne einer Rekonstitualisierung der eigenen Wahrnehmung, gegen eine Anästhetisierung des Spürens im virtuellen Zeitalter.